Das markanteste Merkmal von Madulain zeigt sich jedem, der durch das Dorf flaniert: Hier schmiegt sich ein Haus an das andere, wunderschön in einheitlichem Engadiner Stil und wie zum Schutze gegen allen Unbill, der von aussen eindringen könnte. Dieses geschlossene authentische Dorfbild ist einzigartig im Oberengadin: Hier spielt sich noch heute das Leben nur im Dorfinneren ab, denn da sich hier der Tourismus nur zögerlich Einzug hielt, mussten alte Engadiner Häuser nicht grossen Hotelbauten weichen und Ferienhäuser entstanden nur in einer Siedlung etwas oberhalb des Dorfes.
Zwischen Zuoz und La Punt gelegen war und ist Madulain die kleinste Oberengadiner Gemeinde mit heute rund 230 Einwohnern. Beeindruckender wirken dagegen folgende Zahlen: Das Dorf liegt auf 1700 m ü. M., doch das Gemeindegebiet reicht hinauf bis auf den Gipfel des 3162 m hohen Piz Val Müra. Ferner gehören zwei Alpen und eine Enklave im Val Chamuera zu Madulain, wobei letztere allerdings schon lange nicht mehr von der Gemeinde bewirtschaftet wird: Seit bald 170 Jahren wurde sie «auf ewige Zeiten» an die Familie Orlandi von Bever (heute: Familie von Planta von Zuoz als Nachkommen der Orlandi) verpachtet.
Der älteste archäologische Fund ergab, dass das Haus Suot Mulin bereits vor ca. 700-1000 Jahren erbaut wurde. Damals stand es zuunterst im Dorf und schloss direkt an das Sumpfgebiet am Inn an, heute ist es eines der obersten Häuser. Dies wird als Hinweis dafür gedeutet, dass die Siedlung Madulain in ihren Anfängen weiter oben, bei der Burg Guardaval, lag, wo der Weg von Zuoz über den Es-cha-Bach Richtung Albulapass entlangführte. Die Entstehung des heutigen Dorfkerns begann 1507/09 mit dem Bau der Kirche San Batrumieu, als ein neuer Weg von Zuoz nach Madulain eingerichtet wurde (heute: die Via Veglia). Die ersten Häuser, die damals um diese neue Kirche errichtet wurden, sind z. B. die Häuser Guardaval, Sur Baseglia oder Plazze t.
Suchen wir in alten Dokumenten nach dem Namen, so finden wir ihn erstmals in einer Urkunde von 1137, die den damals grössten Landverkauf des Kantons belegte: Die Grafen Ulrich und Adalbert von Gamertingen veräusserten ihre gesamten Besitzungen im Oberengadin, darunter auch «Madulene», an den Bischof von Chur. Nicht bekannt ist, warum dieser Handel stattfand, sehr wohl aber der Preis, den Bischof Konrad I. von Biberegg zu bezahlen hatte: Er erstand das gesamte Gebiet für 80 Silbermünzen und 600 Goldunzen. Ebenfalls nicht eindeutig zu ermitteln ist der Ursprung des Dorfnamens, von dem – da im Mittelalter keine einheitliche Schreibweise bekannt war – verschiedene Varianten auftauchten, darunter z. B. Madulene, Madulens oder Maduley. Die naheliegendste Erklärung ist eine Herleitung von «metallum», da im Val d’Es-cha schon in prähistorischen Zeiten Kupfer abgebaut worden war.
Madulains Lage zwischen Albulapass und dem damaligen Hauptort Zuoz führte dazu, dass das Dorf im frühen Mittelalter als Zollstation diente. Reste des alten Zollhauses sind noch bei Punt Gianet zu erkennen. Auch der Bau der markanten Burg Guardaval (heute eine Ruine) ist dieser Funktion zu verdanken und der Bischof von Chur bzw. seine Lehensmänner nutzten sie sowohl als Zeichen ihrer Macht, aber auch zur Sicherung der grundherrlichen Rechte. 1420 brannte sie aus unbekannten Gründen ab und wurde nicht mehr wiederaufgebaut. Eine heroisch-romantische, aber realitätsferne Erklärung findet eine berühmte Engadiner Legende in der Geschichte des letzten Vogts von Guardaval und Adam von Camogask
Nachdem Madulain zunächst eine Fraktion von Zuoz war, beginnt sich das Dorf ab 1530 von seiner «Muttergemeinde» abzulösen, bis schliesslich 1543 die sog. Teilungsurkunde seine Selbstständigkeit besiegelt. Auch eine eigene Verfassung gaben sich die Madulainer: Stolze 85 Artikel regelten fast das gesamte Leben in dem kleinen Dorf und halten ausführlich u. a. Alp- und Weidenutzung, Sömmerungsrechte, Viehhandel, Stierhaltung oder Holzabgaben fest.Wirtschaftlich war das Dorfleben also durch die Landwirtschaft geprägt, doch wie überall an Passübergängen gab auch hier der Transitverkehr den Menschen zusätzliche Arbeit und Einkommen: So liessen sich bis Mitte des 18. Jahrhunderts Pferdeführer, Hufschmiede, Wagner und weitere Vertreter verwandter Berufe mit ihren Familien in Madulain nieder. Obwohl der Tourismus in dem verträumten Dorf nicht in gleichem Ausmass Fuss fassen konnte wie in den anderen Engadiner Gemeinden, war Madulain nie arm, was auch daran liegen mag, dass die zahlreichen Auswanderer, vornehmlich Zuckerbäcker oder Branntweinverkäufer, beachtliche Geldsummen in ihre Heimat schickten. Auch in Madulain wurde von diesem frischen Kapital herrschaftliche Häuser gebaut.
Auch heute gehört Madulain nicht zu den grossen, mit allerlei Aktivitäten lockenden Ferienorten. Das Dorf musste damals und heute noch von Reisenden «entdeckt» werden und gilt noch immer als Geheimtipp.